Wo die Seele tanzt

Im Gespräch mit Eric Gauthier

„Der Geruch von nassem Laub, die Farbenpracht des Waldes im Herbst – das ist ein Stück Kanada, das ich in Stuttgart bei einem Spaziergang auf der Waldau finde“, erklärt Eric Gauthier. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat der Spitzentänzer bereits in der baden-württembergischen Landeshauptstadt verbracht. Sie ist ihm dabei ans Herz gewachsen.

Als Eric Gauthier mit neun Jahren vom französischsprachigen Montreal ins englischsprachige Toronto an ein Ballettinternat kam, war das anfangs nicht einfach. „Eine andere Sprache, viele neue Menschen und ohne Familie – das war für mich als Neunjährigen eine echte Herausforderung“, beichtet Gauthier. Aber er lebte sich schnell ein; 1995 wird er Schüler an der National Ballet School of Canada, die von Reid Anderson geleitet wird. Als dieser ein Jahr später als künstlerischer Leiter zum Stuttgarter Ballett wechselt, nimmt er Gauthier mit. „Wow! Ich gehe nach Europa – das war mein erster Gedanke. Für mich war das ein großer Schritt. Und unter Europa habe ich mir glänzende Metropolen wie Paris vorgestellt“, erinnert sich Eric Gauthier. Das Leben in Stuttgart war für den Künstler anfänglich anders als Im Gespräch mit Eric Gauthier in seiner Fantasie: „Ich lebte in einer Einzimmerwohnung am Killesberg, dort wohnten in den 1990er Jahren viele ältere Menschen. Schnell habe ich gelernt, mich an die hiesigen Regeln zu halten: Ich habe nach zehn Uhr abends nicht mehr auf meiner Gitarre gespielt und habe regelmäßig die Kehrwoche gemacht. Aber“, so Gauthier weiter „es war auch eine tolle Zeit. In die Compagnie habe ich mich schnell eingefunden. Man probt den ganzen Tag zusammen, man isst gemeinsam – es ist wie in einer großen Familie.“

Eric Gauthier – Tänzer, Choreograph, Lebenskünstler
Eric Gauthier – Tänzer, Choreograph, Lebenskünstler

Das Gefühl des familiären Zusammenhalts und Beisammenseins prägen das Leben des Tänzers: „Wenn ich heute an meine Kindheit in Kanada zurückdenke, dann fallen mir viele Momente mit meiner Familie ein. Zum Beispiel, wie ich am Weihnachtsmorgen aufgewacht bin und gemeinsam mit meiner Schwester geschaut habe, was der Weihnachtsmann gebracht hat. Oder wie ich als Junge Hockey gespielt habe. Und wie ich mit neun Jahren das Musical Cats gesehen habe.“ Eine Epiphania für Gauthier: „Das war der Moment, wo mir bewusst wurde, dass ich das auch machen wollte: singen und tanzen und auf der Bühne stehen.“ Von seinen Eltern hat er immer viel Unterstützung erhalten und sie haben im geholfen, seine Träume zu verwirklichen – eine nicht ganz einfache Aufgabe, bedenkt man die vielen Talente des Ausnahmekünstlers. Eric Gauthier ist Tänzer, Choreograph, Musiker, Betreiber einer Bar, Creative Director… „Ich bin ein Lebenskünstler“, erklärt Gauthier. „Ballett war mir nie genug. Oft habe ich nach der Aufführung im Opernhaus mit meiner Band in einem Club gerockt.“ Und auch heute sucht er weiterhin nach neuen Herausforderungen, probiert sich aus und nutzt dafür die unterschiedlichsten Medien. Er arbeitet an Werbespots oder schafft Choreographien fürs Kino. In der Vergangenheit verantwortete er beispielsweise als Choreograph die SWR-Kinoproduktion Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm. Auch als Moderator und Tanzexperte steht Gauthier vor der Kamera, wie etwa in der SWR-Dokumentarfilmserie Dance Around the World. „Jedes Mal sind es ganz neue Welten für mich, in die ich da eintauche“, bestätigt Gauthier. „Und jedes Mal ist es eine Bereicherung.“ Vor drei Jahren eröffnete er gemeinsam mit drei Freunden das „Jigger & Spoon“ im Stuttgarter Hospitalviertel, 2019 wurde es als Newcomer Bar des Jahres ausgezeichnet. Wie kann man eine solche Vielzahl an Aufgaben und Herausforderungen meistern? „Ich versuche alles mit Leidenschaft zu tun. Und folge meinem Lebensmotto: Expect the unexpected“, erläutert Gauthier. Daher verwundert es wenig, dass er auch in den herausfordernden Zeiten der Corona-Pandemie neue Wege geht, um die Menschen mit seiner Tanzleidenschaft zu erreichen. Gauthier ruft den Youtube-Kanal #wohnzimmerballett ins Leben und animiert in kurzen Clips Jung und Alt zum Tanzen. „Es sind einfache Schritte und jeder kann mitmachen. Das ist wichtig, denn ich möchte den Menschen einerseits die Freude am Tanzen weitergeben und andererseits zeigen, dass man sich mit ganz einfachen Mitteln bewegen kann und so fit bleibt. Bewegung hilft auch gegen viele Krankheiten.“ Ein Aspekt, der dem Choreographen besonders am Herzen liegt. Gauthiers Vater ist einer der führenden Alzheimer-Forscher, daher war er schon früh für soziale Belange sensibilisiert. In Altenheimen und Krankenhäusern bescherte Eric Gauthier den Menschen Freude mit seinem Tanz. „Ich habe schon als Kind erlebt, mit wie viel Liebe mein Vater sich um die Menschen gekümmert hat. Auch ich möchte etwas zurückgeben.“ Ob bei seinen eigenen Auftritten, bei Events wie dem Tanzfestival Colours oder mit dem Wohnzimmerballett, Gauthier möchte die Zuschauer*innen begeistern, etwas in ihrem Inneren bewegen: „Es macht mich glücklich, die Menschen glücklich zu machen.“

Eine andere Sprache, viele neue Menschen und ohne Familie – das war für mich als Neunjährigen eine echte Herausforderung.“

Über Eric Gauthier

  • Geboren 1977 in Montreal
  • 1995 Schüler des National Ballet of Canada
  • 1996 Tänzer der Stuttgarter Compagnie
  • 2002 Solotänzer beim Stuttgarter Ballett
  • 2005 erste eigene Choreographie
  • Seit 2007 Künstlerische Leitung Gauthier Dance // Dance Company Theaterhaus Stuttgart
  • 2015 Gauthier startet das erste Colours International Dance Festival
  • 2018 Choreograph für SWR-Produktion Mackie
    Messer – Brechts Dreigroschenfilm

Gefühle und das Streben nach Glück sind in Eric Gauthiers Leben wichtige Leitplanken. „Künstlerinnen und Künstler haben meiner Beobachtung nach ein besonderes Verhältnis zu Gefühlen, da diese oft Ausdruck ihres Schaffens sind. Beim Tanz spürt man etwas ohne Worte, hier entstehen Emotionen nur durch Bewegungen.“ Für Gauthier ist das Tanzen selbst daher auch Heimat: „Wo immer meine Seele tanzt, da bin ich zuhause.“ Orte und Räumlichkeiten sind für ihn zweitrangig: „Ein Haus oder eine Wohnung ist nur ein Platz. Wichtiger sind die Gefühle, die man dort teilt. Sie machen die Wohnung erst zu einem Zuhause“, meint der Künstler. Als Tänzer ist man viel unterwegs, arbeitet an verschiedenen Häusern mit unterschiedlichsten Menschen zusammen. „In den Stuttgarter Zeiten sind wir nur einmal pro Jahr auf Tour gegangen, mal in die USA, mal nach Tokio – das waren sehr schöne Momente“, berichtet Gauthier. „Mit Gauthier Dance sind wir viel öfter unterwegs.“ Heimweh kommt bei ihm auf den Reisen nicht auf: „Man steht morgens auf und freut sich schon auf die Vorstellung abends. Als Künstler wartet man immer auf diesen Augenblick, wenn man auf der Bühne steht.“ Gefühle, Emotionen und oft der flüchtige Augenblick – für Eric Gauthier ist alles in seinem Leben damit verbunden. „Ich versuche alles mit Leidenschaft zu tun – nur dann kommt es auch bei den Menschen an.“ Darum hängt seine Definition von Heimat auch nicht von Orten ab: „Ob Montreal, Toronto oder Stuttgart, viel wichtiger ist das Gefühl: In der Heimat fühlt man sich geschützt, man kann zur Ruhe kommen. Für mich ist Heimat da, wo man glücklich ist.“

Was ihm bei all der Fülle an Aufgaben und Themen im Leben am meisten Spaß macht? „Die Zeit mit meinen Kindern, natürlich“, erklärt Eric Gauthier. „Aber auch generell macht es mir Spaß, die Zeit mit Menschen, die viele Ideen und Charakter haben, zu verbringen.“ Mittlerweile, so Gauthier weiter, habe er im Leben schon einiges erreicht. „Nun kann ich vieles genießen und auch mit Stolz auf das Geleistete blicken.“ Lange ausruhen wird er sich wahrscheinlich dennoch nicht, denn viele Ideen sprudeln förmlich aus ihm heraus und er sucht bereits die nächste Herausforderung: „Ich habe mir schon immer gewünscht, ein Musical zu choreographieren. Auch die Inszenierung einer Oper würde mir gefallen.“ Gauthier begeistert sich für vieles – und hat dabei auch immer das positive Gefühl für andere im Blick.

Zwischen all den stressigen Phasen genießt Eric Gauthier die Ruhepausen zuhause. „Ich verbringe dann viel Zeit mit meinen drei Kindern, gehe spazieren oder laufen.“ Auch das Kochen für Freunde macht ihm Spaß: „Manchmal koche ich Gerichte aus meiner Kindheit, so wie meine Mutter sie zubereitet. Der Geschmack bringt mich dann zurück nach Kanada. Und gleichzeitig kann ich meinen Freunden etwas weitergeben, sie quasi in meine Welt mitnehmen“, beschreibt Gauthier.

„Manchmal koche ich Gerichte aus meiner Kindheit, so wie meine Mutter sie zubereitet. Der Geschmack bringt mich dann zurück nach Kanada.“

Von mehr ruhigeren Phasen war Corona-bedingt das Jahr 2020 geprägt; eine Zeit, die bei Gauthier ambivalente Gefühle auslöst: Die Kulturwelt ist beinahe von der Bildfläche verschwunden, viele Auftritte seiner Compagnie sind abgesagt oder verschoben. „Für viele Tänzerinnen und Tänzer ist das ein Desaster. Man hat nur zehn bis fünfzehn Jahre als Profitänzer, wenn da ein Jahr verloren ist, ist das sehr viel Zeit.“ Gauthier Dance probt weiterhin – mit viel Abstand. „Das ist anstrengend, aber ich denke, wir kommen gemeinsam gut durch die schwierige Zeit.“ Gleichzeitig genießt es Gauthier, dass er mehr Zeit für seine Familie hat: „Ich habe meine Kinder noch nie so lange gesehen wie während der Pandemie. Den Alltag zuhause kann ich viel intensiver erleben.“ Außerdem hat der Künstler sein Zuhause in der Corona-Zeit bewusster wahrgenommen: „Ich verbringe mehr Zeit in meinem Büro zuhause. Teilweise musste ich mich da noch besser einrichten. Bilder, die bisher rumstanden, habe ich aufgehängt. Das sind kleine Details, die aber für ein schönes Zuhause wichtig sind.“ Außerdem fand er die Zeit, sein Zuhause aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: „Zuvor habe ich mir noch nie die Decken in meiner Wohnung angeschaut. Jetzt entdecke ich Sachen, die ich vorher nicht gesehen habe.“ Generell hat sich Gauthier mehr Zeit gelassen: „Ich gehe in Ruhe einkaufen, habe mehr gekocht und mein Leben teilweise etwas entschleunigt.“

Zum Entspannen nutzt Gauthier auch die Natur; sie ist für ihn Kraft- und Inspirationsort. „Mit den Kindern bin ich oft am Haus des Waldes. Oder wir machen Ausflüge ins Siebenmühlental.“ Und Stuttgart selbst? „Die Innenstadt ist zwar nicht riesig, aber es gibt alles, was man braucht. Außerdem findet man überall grüne Ecken“, erklärt der Künstler. Die Stadt ist ihm im Lauf der Jahre immer mehr zur Heimat geworden: „Ich bin sowohl in Kanada als auch in Stuttgart daheim – beides ist mein Zuhause.“ Befragt nach seinen Lieblingsorten, nennt Gauthier die Wälder in und um Stuttgart, die im Herbst in den buntesten Farben leuchten. Beim Gedanken daran gibt er zu: „Ich liebe Stuttgart.“