„Gute Architektur entsteht, wenn man die Aufgabe verstanden hat.“

Im Gespräch mit Markus Müller

Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg

Stuttgart und Bauhaus – wie hängt das zusammen?
Stuttgart war vor über hundert Jahren Schauplatz der Auseinandersetzungen um die Frage des Funktionalismus des neuen Bauens in den 1920er Jahren. Großen Einfluss hierauf hatte damals die Architekturabteilung der Technischen Hochschule Stuttgart: Da gab es auf der einen Seite die sogenannte „erste“ Stuttgarter Schule, unter anderem mit Paul Bonatz als Vertreter des traditionellen Bauens, und auf der anderen Seite die „zweite“ Stuttgarter Schule, der auch Richard Döcker angehörte und die wiederum sehr stark von den Ideen des Bauhauses geprägt wurde. Spätestens der Bau der Weißenhofsiedlung und der Kochenhofsiedlung, die in unmittelbarer Nähe zueinander auf dem Stuttgarter Killesberg errichtet wurden und in ihrem Erscheinungsbild nicht unterschiedlicher sein könnten, stellte die bauliche Manifestation dieser beiden konkurrierenden Architekturströmungen dar.

Das Credo des Bauhauses war der Funktionalismus –
was schätzen Sie besonders an dieser Architektur?
Das Schöne an der Moderne ist, dass man wirklich versucht hat, Architektur nicht nur als dekorative Kunst zu verstehen, sondern die Bedürfnisse der Menschen und deren Erfüllung hinterfragt hat. Der Funktionalismus  hat sich damals der drängenden Frage gestellt, wie man ausreichend bezahlbaren Wohnraum herstellen kann –eine Thematik, die heute nach wie vor aktuell ist. Die Architektur der Moderne war eingebettet in eine gesellschaftliche Entwicklung – etwas ganz Wichtiges, wenn man sich an diese Zeit erinnert – es ging nicht um einen Stil und nicht darum, dass alle Gebäude weiß sein mussten, sondern in erster Linie um eine gesellschaftliche Frage.

„Funktioniert“ der Funktionalismus aus Ihrer  
Sicht auch heute noch?
Nicht wirklich. Natürlich gibt es Aspekte der Moderne, von denen wir bis heute profitieren, allerdings sind viele Paradigmen heutzutage nicht nur obsolet, sondern geradezu ursächlich für gegenwärtige Probleme – bestes Beispiel hierfür ist die Trennung der städtischen Funktionen des Arbeitens, Wohnens und des Verkehrs: Der Siedlungsbau der 1950er und 1960er Jahre, aber auch die Regelungen des heute gültigen Bauplanungsrechtes fußen auf diesem Prinzip, wodurch zwar die Fragen der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts beantwortet wurden, aber eben nicht mehr die Fragen der heutigen Zeit. Damals gab es noch unzählige große Industrieanlagen, die Lärm und schädliche Emissionen verursacht haben, und die Menschen arbeiteten rund sechzig Stunden in der Woche – daher ging man der Frage nach, wie gesunde Wohnverhältnisse aussehen müssen, damit sich die Menschen erholen können. Diese Frage stellt sich heute
so nicht mehr, stattdessen leben wir mit wuchernden Gewerbeflächen und enormen Verkehrsmengen. Mittlerweile lernen wir daraus und verfolgen vielmehr das Ziel, Wohnen und Arbeit wieder näher zusammenzubringen.

Über Markus Müller

  • Jahrgang 1965, Meckenbeuren
  • Studium Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart
  • Stipendiat der Konrad–Adenauer–Stiftung für Begabtenförderung
  • Diplom bei Professor Klaus Humpert
  • Tätigkeit bei Fiedler.Aichele, Stuttgart
  • Selbstständig seit 1996
  • Seit 2014 Präsident der Architektenkammer Baden­Württemberg

Welche Auswirkungen hat die damalige Architektur auf den heutigen Siedlungsbau?
Viele Fragen, die sich die Architektur damals gestellt hat, sind heute noch aktuell, müssen allerdings neu beantwortet werden: Was brauchen die Menschen wirklich, wie können wir sparsam mit Ressourcen umgehen und so bauen, dass Wohnen bezahlbar bleibt? Vor allem aber müssen wir uns fragen, wie wir im Wohnungsbau überhaupt soziale Systeme generieren können. Daher punkten heute auch überwiegend Architekturentwürfe, die die Frage des Zusammenlebens der Menschen in einem Quartier beantworten – denn darüber definiert sich Wohnen, und gute Architektur entsteht, wenn man diese Aufgabe verstanden hat. Was das anbelangt, sind viele kommunale und sozial orientierte Wohnungsunternehmen mittlerweile schon sehr weit.

Der Siedlungsbau hat sich über die Jahre stark  gewandelt – was hätte man früher besser machen können und wo sollte man sich heute stärker an den damaligen Grundsätzen orientieren?
Eines der wichtigsten Erkenntnisse aus der damaligen Zeit ist, dass sich der Wohnungsbau nicht für architektonische Inszenierungen eignet. Andererseits sehen wir, dass platter Funktionalismus zu Wohnverhältnissen führt, die den Menschen nicht mehr gerecht werden und für soziale Schwierigkeiten sorgen. Es genügt eben nicht, nur über Kennzahlen und effiziente Bauweise zu sprechen, sondern wir müssen verstehen, dass Wohnen soziale Systeme voraussetzt und gleichzeitig auch kreiert. Architektur muss sich immer aus der Interaktionsfähigkeit eines Gebäudes entwickeln. Daher ist das, was die SWSG macht und worüber wir heute im Wohnungsbau auch diskutieren, aus meiner Sicht eines der ganz  großen Innovationsfelder unserer Zeit.

Was zeichnet die Wallmersiedlung aus Ihrer Sicht architektonisch aus?
Kurz und knapp: Dass sie sowohl den Traditionalismus als auch die Moderne abbildet und dass man auf einen Blick eine Entwicklung der Architektur in Stuttgart daran ablesen kann – das finde ich großartig.

Welche Herausforderungen birgt die Wahrung denkmalgeschützter Siedlungen wie der Wallmersiedlung?
Das Ganze ist in gewisser Weise ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite haben wir ein Zeitdokument, das es zu wahren gilt, auf der anderen Seite wohnen Menschen in diesem Zeitdokument – das bringt andere Herausforderungen mit sich als bei einer Kirche, die man einfach als Denkmal für die Nachwelt erhalten kann. Daher ist es wichtig, abzuwägen, ob und wie Wohnen im Denkmal auf Dauer funktionieren kann, denn die Anforderungen an Wohn- und Lebensräume sind heute nicht mehr dieselben wie damals. Das soll jedoch keineswegs ein Argument gegen den Denkmalschutz darstellen, im Gegenteil: In vielen Städten merken wir, wie viel Identität uns durch mangelnden Denkmalschutz verloren gegangen ist. Daher finde ich es auch sehr verdienstvoll, dass die SWSG die Weißenhofsiedlung erworben hat – eben weil die Bewirtschaftung eines solchen architektonischen Erbes bedeutend schwieriger ist als beispielsweise bei einer Neubausiedlung. Umso wichtiger sind gemeinwohl-orientierte Wohnungsunternehmen, die sich dieser Herausforderung widmen.